Die Geschichte der Zuckerstange
An einem trüben Novemberabend ritt ein Fremder in die Stadt. Er hielt vor einem verlassenen Laden und stieg von seinem Pferd. Die Fenster des Gebäudes waren mit Brettern vernagelt und die Tür war
schon lange verschlossen. Doch der Fremde zog einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete, lächelte und sagte leise zu sich: „Das ist er also. Genauso hatte ich ihn mir vorgestellt.“ Den ganzen grauen
und regnerischen November hindurch arbeitete er. Die Menschen in der Stadt hörten ihn hämmern und sägen und rochen den Geruch von neuem Holz und frischer Farbe. Aber niemand wusste, wer der Fremde
war oder was er tat. Der Bürgermeister hoffte, dass der Mann ein Arzt war, der seine Krankheiten heilen konnte. Die jungen Frauen hofften, dass er ein Schneider war, der ihnen wunderschöne
Kleider nähen könnte. Am meisten aber hofften die Kinder. Ihr Wunsch war der größte Wunsch von allen. Dieser Wunsch war so groß, dass sich keiner von ihnen traute ihn auch nur auszusprechen. Niemand
sprach mit dem Mann. Niemand bot ihm seine Hilfe an. Aber alle warteten und schauten und staunten und hoffen. Eines Tages aber hielt es ein kleines Mädchen einfach nicht mehr aus. Der Schnee
fiel leise vom Himmel, als sie an die Tür des Fremden klopfte. „Hallo!“ sagte sie, „ich heiße Lucy. Brauchen Sie Hilfe?“ Der Mann lächelte Lucy freundlich an und nickte. Dann öffnete er die Tür und
Lucy trat ein. Ein langer Tresen zog sich durch den Raum und an der gegenüberliegenden Wand befanden sich viele leere Regale. Im Hinterraum stand alles voller Kisten und Fässer. „Hilfst du mir
beim Auspacken?“ fragte der Mann das Mädchen. Lucys Mut sank als sie all die Kisten und Fässer sah. Was, wenn das alles Fässer voller Nägel waren und Pakete voll mit Mehl? Aber sie zog ihre nassen
Schuhe aus und hängte den Mantel an den Haken. Auf Wollsocken durchquerte sie den Raum und hockte sich neben eine Kiste. „Bitte öffne sie!“ ermutigte sie der Fremde. Langsam griff Lucy in die Kiste
und hob einen Gegenstand heraus, der gut in Papier eingewickelt war. Er war rund und schwer und rutschte ihr fast aus der Hand. Sie zitterte ein wenig, als sie den Gegenstand auspackte. Es war ein
großes Glasgefäß. Lucy schaute den Mann erstaunt an. Er ermutigte sie durch ein Kopfnicken zum Weitermachen. Also packte Lucy ein weiteres Glasgefäß aus und noch eins und noch eins, bis sie
ganz von Glasgefäßen umgeben war. Es gab die verschiedensten Größen und Formen. „Jetzt brauchen wir nur noch etwas, um es in die Gläser zu füllen“, bemerkte der Mann und holte ein großes Paket
aus dem Hinterraum. Als Lucy das Paket öffnete, weiteten sich ihre Augen. Es waren – Süßigkeiten! Ihre Lieblingsbonbons, Gummidrops! „Probier mal!“ forderte der Fremde sie auf und das ließ sich
Lucy nicht zweimal sagen. Hastig streckte sie sich einen Bonbon in den Mund. Und dann konnte sie die Kisten gar nicht schnell genug auspacken. Pfefferminzstangen, Toffee, Lollis, Kaugummi. Mit
strahlenden Augen sah sie den Mann an. „Woher wussten Sie, wir haben uns so sehr einen...“ „Einen Süßwarenladen gewünscht, ich weiß“, antwortete der Mann. „Und hier ist er nun: ‚Sonnemanns
Süßwarenladen’ und ich bin John Sonnemann.“ Schnell füllten sich die leeren Regale mit Süßigkeiten und schimmerten in den schönen Gläsern. Da gab es Himbeerlutscher und kleine Zitronenbonbons,
farbige Kaubonbons und lange Lakritzstangen, pinkfarbene und weiße Pfefferminzbonbons und Buttertoffee. Und dann im allerletzten Paket gab es etwas, was Lucy zuvor noch nie gesehen hatte. Es
war eine rot-weiß gestreifte Zuckerstange mit einer Krümmung an einem Ende. „Was ist das?“ fragte Lucy. „Das ist eine Zuckerstange, eine ganz besondere Weihnachtsüberraschung“, antwortete Mr.
Sonnemann. „Warum?“ fragte Lucy zurück. „Schau es dir genau an und dann sage mir, an welchen Buchstaben es dich erinnert.“ Lucy nahm die Zuckerstange in die Hand und drehte sie hin und her. „Jetzt
weiß ich’s. Das ist ein J!“ „Ja“, Mr. Sonnemann lächelte, „J wie Jesus, der an Weihnachten geboren wurde. Jetzt drehe sie um. An was erinnert sie dich jetzt?“ Nachdenklich antwortete Lucy: „Das sieht
aus wie ein Hirtenstab.“ „Und wer waren die Ersten, die von der Geburt Jesu erfuhren?“ frage Mr. Sonnemann zurück. „Die Hirten auf dem Feld, die ihre Schafe hüteten. Aber Mr. Sonnemann, wofür stehen
die Streifen?“ Die Augen des Mannes verdunkelten sich. „Der Prophet Jesaja sagt: ‚Durch seine Wunden werden wir geheilt.’ Bevor Jesus gekreuzigt wurde, wurde er so geschlagen, dass er blutete. Die
roten Streifen sollen uns an sein Leiden erinnern. Aber wie du siehst, ist die Zuckerstange auch weiß. Wenn wir Jesus unser Leben geben, dann wäscht sein Blut unsere Sünden ab und macht uns in Gottes
Augen weiß und rein wie Schnee. Das ist die Geschichte der Zuckerstange.“ „Ist das ein Geheimnis?“ fragte Lucy leise. Mr. Sonnemann sah sie einen Moment lang an bevor er antwortete. „Es ist
eine Geschichte, die erzählt werden muss! Willst du mir dabei helfen?“ Inzwischen war es Mitte Dezember und die Winterstürme tobten durch die Stadt. Die Sonne war tagelang nicht zu sehen. Aber
jeden Morgen zogen Mr. Sonnemann und Lucy los. Sie trugen warme Jacken, Schals und in jeder Hand eine große Tüte. Sie gingen in jedes Haus in der Stadt. Sie reisten zu jeder Farm im Umkreis. Sie
klopften an jede Tür. In jedem Haus erzählten sie die Geschichte und hinterließen ein Geschenk und eine Einladung. Am Nachmittag des Heiligen Abend brach plötzlich die Sonne durch die Wolken... und
der Süßwarenladen von Mr. Sonnemann öffnete! Alle waren gekommen. Der Bürgermeister fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Die jungen Frauen trugen ihr strahlendstes Lächeln. Die Bauern
kamen, begierig ihr Getreide gegen Weihnachtsgeschenke zu tauschen. Und die Kinder liefen vor Aufregung hin und her. Ja, ihre Wünsche waren in Erfüllung gegangen. Ja, sie waren gekommen, um die
Eröffnung des Süßwarenladens zu erleben. Aber sie erlebten und erfuhren viel mehr. Etwas viel Größeres. Etwas viel Besseres. An diesem Abend hörten sie die Geschichte der Zuckerstange, dem Wunder der
Geburt Jesu, seinem Leiden und Sterben am Kreuz und von der Gnade seiner Liebe.
(Lori Walburg, Übersetzung: Claudia Diestelhorst)
|
|